Über die Initiativen „Corona Creative“ und „DOK Creative“ rief der Mitteldeutsche Rundfunk Dokumentarfilmschaffende dazu auf, sich filmisch mit ihrem Alltag in der Pandemie zu beschäftigen. Entstanden sind vielfältige Momentaufnahmen und bleibende Dokumente einer verrückten Zeit, die sich mit dem Leben, den Sehnsüchten und Ungewissheiten der Menschen in Mitteldeutschland während der Pandemie auseinandersetzen. Anlässlich der bundesweiten Dokumentarfilmtage LETsDOK wird am 19. September eine Auswahl der Werke gezeigt, die 2020 und 2021 entstandenen sind. Bei einem Filmgespräch im Anschluss stehen Filmemacher*innen sowie Verantwortliche für Fragen zur Verfügung.
Programm:
1. Das Bewohner-Virus, 2020, 7 min.
2. Die Isolation der Oma Lilo, 2020, 15 min
3. Der Zirkus ist in der Stadt, 2020, 11 min.
4. Ich weiß es nicht, 2021, 9,5 min
5. Wer braucht jetzt Kunst, 2021, 15 min
6. Das Virus im Dorf der Spatzenjäger, 2020, 15 min
7. Sara, 2021, 15 min
Im Anschluss: Filmgespräch
Die Veranstaltung wird gefördert von der Staatskanzlei Thüringen und der MDM.
Ausführliche Filmbeschreibungen:
Das Bewohner-Virus
von Nadine Gottmann und Sebastian Hilger (D 2020 | 7 min)
Kein Kindergarten mehr, keine Treffen, keine Freunde, keine Ausflüge, keine Hobbys. Die Welt
von Anton (5) und Wanda (2) hat sich innerhalb weniger Tage um 180 Grad gedreht. Wie für alle anderen auch. Doch für die beiden kam es plötzlicher als für uns. Sie schauen keine Nachrichten – das Ausmaß dessen, was gerade passiert, ist ihnen nicht bewusst. Und doch reimen sie sich in ihren kleinen Köpfen selbst zusammen, was gerade mit der Welt los ist und warum alles so anders ist: Wegen dem „Bewohner-Virus“. Die Tage von Anton und Wanda strukturiert eine selbstgebastelte Uhr, durch die sie jede Stunde Abwechslung haben. Sie machen Musik mit Mama, basteln ein Märchenschloss mit Papa, dürfen beim Kochen helfen und sollen zwei Stunden am Tag allein spielen, weil die Eltern eigentlich arbeiten müssen. Die Tage ziehen sich wie Kaugummi und gleichzeitig möchte man sie nicht verstreichen lassen. Denn eigentlich ist Frühling. Eine außergewöhnliche Zeit für Eltern und Kinder, konflikt- und chancenreich. Einerseits ist man stolz um jeden Schritt, den der selbstgebastelte Zeiger weiterzieht – andererseits ist das doch eigentlich unsere Zeit und die sollte man nicht vergeuden mit Warten – Und auf was überhaupt? Der Film nimmt die Perspektive derer in unserer Gesellschaft einnehmen, die vom Virus selbst verschont bleiben aber das ganze Drumherum miterleben. Die Kinder haben beinah unendlich viel Zeit, aber nur begrenzten Raum. Der unterbewusste Wunsch nach Gemeinschaft wird fast schmerzlich offenbar. Eine stimmungsvolle Collage rund um das Thema das Leben der Kinder in der Coronakrise entstehen.
Die Isolation der Oma Lilo
von Patrick Richter und Christoph Eder (D 2020 | 15 min)
Die 91-jährige Oma Lilo hat den Zweiten Weltkrieg überlebt, die Wende gemeistert und nun kommt ein unsichtbares Virus und will ihr den Garaus machen. Seit ihr Mann gestorben ist, wohnt sie in einem Altersheim am Rande Erfurts. Besucht werden darf sie nicht mehr. Auch nicht von ihrem Enkel Patrick und seinem Kollegen Christoph Eder. Vor dem Corona Virus schaute Oma Lilo zusammen mit Patrick oft gemeinsam “Sturm der Liebe”, trank dabei vollendet veredelten Spitzenkaffee von Dalmayr und aß dazu den Kuchen vom Bäckerwagen. Ansonsten saß sie die meiste Zeit über im Sessel vorm Fernseher oder traf sich zu den Essenszeiten mit den Hausbewohnern zum Bingo spielen. Aber nun darf niemand mehr ins Altenheim hinein und niemand mehr raus. Als ein älterer Herr heimlich eine Geburtstagsfeier besucht, wird er komplett in Quarantäne gesperrt. Einsamkeit macht krank. Und so entstehen Gespräche am Telefon, am Fenster, am Zaun im Park, vor dem Außenbereich des Heims. Dankbar, einmalig offen und herzlich nimmt nicht nur Oma Lilo die filmische Kontaktaufnahme mit Mindestabstand an. Viele fühlen sich abgeschoben, weggesperrt, alleingelassen. Und trotzdem entsteht ein humorvolles, behutsam leichtes Portrait einer Gesellschaft von älteren Menschen um Oma Lilo und den guten Feen des Pflegepersonals, die Last und Einsamkeit lindern. Erzählt aus der ICH-Perspektive von Enkel Patrick.
Der Zirkus ist in der Stadt
von Tom Fröhlich (D 2020 | 11 min)
Zuhause bleiben, wenn es kein Zuhause gibt. Der Zirkus Alexander ist in der Nähe des sächsischen Städtchens Wurzen gestrandet. Neun Artisten, drei Kinder und 20 Tiere, geduldet für ein paar Wochen irgendwo an einer Landstraße. Ein fahrendes Volk plötzlich gezwungen, temporär sesshaft zu werden. Es gibt kein Winterquartier, kein Zuhause für die Mitarbeiter. Im Zuge der COVID-19 Pandemie verhängt Sachsen mit der Kontaktsperre und dem Veranstaltungsverbot Maßnahmen, die den Zirkus in eine absolute Ausnahmesituation bringt. Das Ordnungsamt droht mit dem Kappen von Wasser und Strom und mit der Polizei. Sie sind durch die abgesagten Veranstaltungen pleite, schulden hohe Summen für bereits beworbene Veranstaltungen, die nie stattfinden werden und leben zwischenzeitlich nur von Spenden. Der Dokumentarfilm beobachtet aus der verordneten Distanz den Alltag der Artistenfamilie. Ein künstlich aufrecht erhaltener Mikrokosmos ohne Publikumsverkehr, der nur dafür da ist, den Zirkusartisten Halt zu geben. Die kreisrunde Manege aus Heu wird zum Symbol für ein „Immer-Weiter“, das nicht hinterfragt werden darf. Hier wird trainiert, werden die Tiere gefüttert und gepflegt, danach selbst gekocht. Gewartet. Eine surreale Freiluftchoreographie, bevor es wieder in den Wohnwagen geht, der jeden Tag ein wenig kleiner wird. Die Kamera gibt sich dem stillen Alltagstrott hin, beobachtet aus der Ferne und über Barrieren hinweg. Es gibt kein Interview, keine direkte Interaktion zwischen ihr und den Protagonisten. Ein einfühlsames Porträt einer eingeschworenen Gemeinschaft, die auch in weniger chaotischen Zeiten von Existenzängsten bedroht ist und nun in der Ausnahmesituation überleben will.
ICH WEISS ES NICHT
von Jan-Luca Ott (D 2021 | 9,5 min)
„Ich weiß nicht mehr, wie oft ich mit meiner Mutter seit Ausbruch der Pandemie am Telefon über Glauben und Wissen, alternative Fakten und Medien diskutiert habe“, sagt Filmemacher und Sohn Jan-Luca Ott. Wie in so vielen Familien gibt es auch bei ihm und seiner Mutter zu den Maßnahmen der Pandemiebekämpfung sehr unterschiedliche Haltungen, die mitunter zu Konflikten führen. Gleichzeitig bemühen sich beide miteinander im Gespräch zu bleiben und nach einem kleinen gemeinsamen Nenner zu suchen. ICH WEISS ES NICHT ist ein Annäherungsversuch – einerseits ein räumlicher, denn nach Monaten der Skype-Kommunikation üben sich Mutter und Sohn wieder im persönlichen Gespräch, vor allem aber in der Wahrnehmung der Wirklichkeit, bei der manchmal auch vielsagendes Schweigen entsteht. Was, wenn man einen nahestehenden Menschen mit Argumenten nicht mehr erreichen kann? Eine filmische Beziehungsarbeit an der Grenze zwischen berechtigter Kritik, nachvollziehbarem Frust und irrationalen Ängsten. Auf beiden Seiten.
Wer braucht jetzt Kunst?
von Olaf Held (D 2021 | 15 min)
Familie Kummer hält sich bereit: Auch die Chemnitzer Künstlerfamilie sitzt während der Corona Pandemie im Homeoffice. Keine Theater, keine Konzerte, keine Ausstellungen, keine Jobs. Aber dennoch oder gerade deshalb – sie machen weiter: Vater und bildender Künstler Jan Kummer, 50 und Chemnitzer Urgestein mit internationalem Erfolg, malt mit Humor und Lakonie jeden Tag aufs Neue gegen das Nichtstun an. Die Töchter Nina und Lotta performen das mittlerweile 50. Homevideo für die Fans ihrer Band „Blond“ auf und Mutter Beate versucht am Esstisch, mit einer Schulklasse in Plauen ein Theaterstück einzustudieren. Per Online-Meeting, versteht sich. „Wer braucht jetzt Kunst“ zeigt schlaglichtartig Momentaufnahmen einer Familie zwischen Stillstand und sturem Weitermachen und steht damit für eine ganze Branche, für die der Pausenknopf gedrückt wurde und die von Pandemie und Gegenmaßnahmen besonders hart getroffen ist. Die Frage „Wer braucht jetzt Kunst“ würden Kreative wohl genau wie ihr Publikum gleichermaßen beantworten: Wir alle!
Das Virus im Dorf der Spatzenjäger
von Yvonne Andrä (D 2020 | 15 min)
Meusebach, ein 94-Seelen-Dorf im Thüringischen Saale-Holzland-Kreis. Vertriebene Spatzen, erschossene Hirsche, erschlagene Franzosen – das winzige Meusebach hat eine blutige Geschichte. Bis heute sind die Meusebacher, die sich selber Spatzenjäger nennen, stolz darauf. Nun aber haben die geselligen Bewohner einen neuen Feind: Corona. Doch die alten Waffen funktionieren nicht, neue sind gefragt. Mit Virometern, rot-weißen Bändern und Tiefkühltruhen haben die Spatzenjäger den Kampf aufgenommen. Die Abgeschiedenheit inmitten von Bergen und der Gemeinschaftsgeist haben den Ort einst vor Napoleons Truppen geschützt. Bis heute lebt man hier ein aktives Dorfleben; sie feiern zusammen, sind tagsüber auf der Dorfstraße und haben keine geschlossenen Türen. Aber wie ist es, wenn die bewährte Nähe plötzlich Krankheit, ja sogar den Tod bringen kann? Meusebach als Folie, ob man zusammensteht, wenn etwas die Menschen bedroht. Da ist Volker ist der Wirt, Dieter, der Außenseiter mit seiner Frau Petra, einer Köhlerin. Es gibt Wieland, den reiselustigen Feuerwehrmann oder Bea, die Restauratorin mit dem offenen Haus und ihrem Freund Philipp, dem jungen Kunstschmied aus Dresden. Immer haben sie alles zusammen gemacht – Die Fahrt zum Traktortreffen ins Nachbardorf, den Familienwandertag, die Vereinsversammlung der Feuerwehr. Gras mähen, Holz sägen, Pilze suchen, Tiere füttern und ausgiebig in der Schenke sitzen und die große Politik bereden. Nun aber ist erstmals in der Geschichte von Meusebach alles geschlossen. Die Schenke hat zu. Die Spatzenjägerhalle auch. Sich nahekommen ist verboten. Meusebach – Was nun? Zwei Tage in Meusebach während der Corona-Pandemie. Eine kontrastierende, kunstvoll in Szene gesetzte Collage zwischen früher und heute – zwischen „vor Corona“ und „während Corona“.
Sara
von Claudia Euen (D 2021 | 15 min)
Sara ist 15, lebt in Hoyerswerda, liebt Serien, trifft sich mit ihren Freunden und ist vom Home- Schooling genervt, genau wie wahrscheinlich alle in ihrer Generation. Doch unter der scheinbar normalen Oberfläche ist eine große Ungewissheit: Sara Aliev könnte jeden Tag aus Deutschland abgeschoben werden. Vor sechs Jahren kam sie mit ihren Eltern aus Georgien – auf der Suche nach einem sicheren, einem besseren Leben. Ein abgelehnter Asylantrag, eine Abschiebung ohne den Vater, die Rückkehr und das Leben in der Gemeinschaftsunterkunft: Saras Glück hängt an einem seidenen Faden, dabei will sie nur ihr Leben leben, Abi machen, Medizin studieren. Wird das möglich sein. Der Kurzdokumentarfilm SARA nimmt uns mit in den Alltag der 15-Jährigen – in die Schule, zum Treffen mit ihrer Freundin, auf einen Ausflug mit den Eltern und zu ihren Lehrern und den Menschen, die sie motivieren und sie unterstützen. Der Film zeigt ein Leben zwischen jugendlichem Freiheitsdrang und Zukunftsplänen auf der einen und der ständigen Sorge auf der anderen Seite.